Schneckentempo

 

Der Jahreswechsel macht nachdenklich. Soweit die mit Rührung und Sekt gemischten Überlegungsfetzen in der Silvesternacht mit Nachdenken richtig beschrieben sind. Vom Neujahrsmorgen schweige ich ganz.

 

Aber es stimmt ja. Die jährliche Sonnenwende lädt ein zur Deutung von Sternbildern und Bleiklumpen. Zu Wunsch und Vorsatz für Anderes, Neues, Besseres. Gesünder leben, endlich den Schal fertig stricken, eine neue Regierung. Schön wäre es, wenn die Politik das mit Gesund und Schal gleich für mich mit erledigen würden. Wozu hab ich die sonst gewählt?

 

Dass die Anderen was ändern sollen, ist normalerweise die Generalausrede für Untätigkeit im eigenen Haushalt. Wenn nicht Corona wär, hätte ich längst das Rauchen aufgegeben und nebenbei schon die Steuererklärung gemacht. Die Vernunft hat hier so wenig zu melden wie bei sagen wir radikalen Impfgegnern.

 

Der Hirnforscher Gerhard Roth erklärt in einem Spiegel-Interview vom Dezember 2021 „Von 100 Menschen sind etwa 20 vernünftigen Argumenten spontan zugänglich. 10 bis 15 sind nicht zu erreichen…“ Der große Rest verhalte sich wie die Menschen im Umfeld. Natürlich nur wie die, denen man vertraut.

 

Aber bildet Euch bloß nichts ein Ihr Frühstgeimpften, das hat offenbar nichts mit Intelligenz zu. Dafür viel mit persönlichen Erlebnissen, Unsicherheiten und Ängsten. Und mit der relativ spät entwickelten Vernunft in der Menschheitsgeschichte. Der Verstand hat einfach schlechte Karten, wenn’s um Reflexe geht. Und ist außerdem total lahmarschig.

 

Und jetzt? Gar nicht mehr überlegen, sich gar nichts Schönes mehr ausdenken zum Weltverbessern? Einfach besinnungslos verharren in der einzigen aller Welten? Vielleicht geht auch Tricksen. Sachen umetikettieren, damit sie nach der Rettung der Welt klingen. Zu Erdgas nachhaltig sagen zum Beispiel. Bei Atomkraft bin ich mir unsicher. Die ist ja im Ernst total nachhaltig. Einige Sorten von radioaktivem Müll halten schließlich fast ewig.

 

Andererseits gibt es Wandel, wo man hinguckt. Einzelne Menschen ändern sich. Und ganze Gesellschaften geraten in Bewegung. Wie das alles zusammenhängt, scheint kompliziert zu sein.

 

Die Politik kann natürlich was machen. Das ist zwar umständlich und langwierig in einer Demokratie. Aber Gurtpflicht und Mülltrennung haben wir schließlich schon im Sack. Ein paar Kleinigkeiten fehlen allerdings noch. Wie kriegt man aber die Leute dazu, dass sie mitspielen?

 

US-Forscher haben versucht, das in einem Experiment herauszufinden. Sie wollten mit verschiedenen Begründungen Haushalte vom Energiesparen überzeugen: Sie sparen Geld. Die Klimakatastrophe. Die Nachbarn sind schon dabei. Die Nachbarn waren am wirksamsten.

 

Irre, oder? Nicht mal Geld sticht den Buben von nebenan. Von der Moral konnten wir leider sowieso nichts anderes erwarten.

 

Wenn das aber kein Experiment wäre und die Nachbarn in echt schon Energie sparen würden - Wie sind die dann so viele geworden? Einer muss ja den Anfang machen.

 

Vielleicht hat sich vor fünf Jahren der Joe was fürs neue Jahr vorgenommen. Der Donald war’s bestimmt nicht.

 

Foto: Kunstinstallation Triest Herbst 2021

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Thomas (Mittwoch, 12 Januar 2022 18:17)

    Danke Susanne. Wurde auch wieder mal Zeit! Wie immer: 1+

  • #2

    Carsten (Mittwoch, 12 Januar 2022 20:22)

    Was habe ich Dich seit Wochen vermisst, und gut dass sich nicht alles über das Jahr ändert.

  • #3

    Mechthild (Mittwoch, 12 Januar 2022 21:35)

    Bin ganz bei Carsten und Thomas, wieder herrlich auf den Punkt gebracht, liebe Susanne. Man konnte mich als Kind schon mit frischen Windbeuteln begeistern. Am liebsten die mit Sauerkirschen und Sahne, ein Genuss.

  • #4

    Susanne (Donnerstag, 13 Januar 2022 19:41)

    Danke Euch! Mit dem ganzen Mist in der Welt wird man ganz wuschig und kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Kürzlich hätte ich mir schier ein Buch von Ratzinger gekauft. Glaube.Wahrheit.Toleranz heißt es. Dann ist es aber doch die Brigitte geworden. Wegen dem Jahreshoroskop.