Stehplätze

In Salzburg gibt es keine Obdachlosen. Oder sie werden irgendwo gesammelt. In der Festung Hohensalzburg vielleicht. Da hätte es viel Platz. Auf den 7000 m2 wohnen derzeit bloß der Verwalter, ein paar Feuerwehrleute und noch zweidrei Menschen. Sie könnten sich dort außerdem nützlich machen. Den Touristen ihre gruseligen Geschichten erzählen zum Beispiel. Da kann man sich das Leben im Mittelalter gleich viel besser vorstellen. Das Dumme ist, dass Obdachlose sich nicht nützlich machen wollen. Oder nicht mehr. Oder nicht können. Dabei wissen wir genau, dass jeder Mann seines Glückes Schmied ist. Jede Frau nicht ganz so, weil ihr die Kraft zum schweren Handwerk fehlt. Obwohl, mit ein bisschen Übung? Immerhin spielt sie mittlerweile ganz passabel Fußball.

 

In Salzburg gibt es jede Menge Männer, die viel und gut geschmiedet haben. Heiße Eisen, Ränke manche. Man sieht es an den Hosen, mal Leder, mal rosa. Und an ihren Frauen. So lenken sie von den Schwielen an den Händen ab. Und man sieht es an ihrem hochentwickelten Sinn für Kunst. Beziehungsweise am Eintrittspreis für die Zauberflöte. Nur wer den Wert des Musiktheaters für die Menschheit begriffen hat, bezahlt 640 EUR für die Karte. Eine Karte. Das ist meine Monatsmiete. Aber ich hätte ja auch ein ordentliches Handwerk erlernen können. Hab kein Eisen geschmiedet und jetzt ist es kalt. Selber schuld. Außerdem gibt es auch günstige Plätze. Nur im Stehen bringt man schließlich die nötige Körperspannung mit für den intensiven Kunstgenuss.

 

Für den JEDERMANN sind die Eintrittspreise sehr folgerichtig bescheiden. Quasi. Das hängt aber bestimmt auch mit der Qualität des Stücks zusammen. Schlichter, plumper, moralischer könnte das Spiel vom Sterben des reichen Mannes kaum sein. Ebenezer Scrooge aus Dickens Weihnachtsgeschichte auf Hochkultur frisiert. Oder wie ein Gast neben mir fassungslos sagte: Was ist denn das für ein Scheiß-Stück.

 

Wären da nicht die Schauspieler:innen. Und gäbe es nicht die unvorhergesehenen Kunstgriffe der Natur. Der Dom ist erleuchtet. Die Glocken läuten mit Macht. Es tönt ein unheimliches „Jedermann“ von allen Seiten. Die Ankunft des Todes steht kurz bevor. Da gibt es einen Notfall im Publikum. Es ist sehr stickig und heiß hier. Nach 20 Minuten geht es weiter. Der Tod naht. Es fängt an zu regnen. Das Publikum flieht. Lars Eidinger ruft, als ob er ein xbeliebiger Jedermann wäre: „Bleibt doch da, es ist nur Regen. Aber ich weiß, die Lederhose darf nicht nass werden.“ Das Spiel wird abgebrochen. Jedermann stirbt nicht dieses Mal. Wildes Durcheinander. Kein Applaus. Der Regen hört auf. Ein wahrlich großer Abend. Danke Ruth und Klaudia!

 

Die erfolgreichen Schmiedemeister freuen sich beim Marillenschnaps schon aufs nächste Jahr. Hauptsache, die Regie übertreibt nicht wieder. Vielleicht kommt dann der Jens Harzer. Und als Buhlschaft die Sandra Hüller. Das wär doch was.

 

Für die Obdachlosen sind 20 Stehplätze eingeplant. Hab ich gehört. Kann auch ein Gerücht sein. Es gibt schließlich keine.

 

Foto: Ruth Hebel

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Kommentare: 1
  • #1

    Bettina (Donnerstag, 28 Juli 2022 17:00)

    Das is ja wie im richtigen Leben...teilweise!Man denkt,du hast das wirklich erlebt...grins!
    Und natürlich eine schöne Danksagung an deine Freundinnen!