Mitgefühl

Mitleid ist ein knappes Gut. Weil das meiste schon für uns selber draufgeht. 80% von dem edlen Mut sind sofort weg, schätze ich. Wird dringend gebraucht für Rücken, Kopf und Seele. Ob das da gut angelegt ist, weiß ich nicht.

 

Auf alle Fälle sieht es nach einer hohen Nachfrage aus in Sachen liebe-dich-selbst-wie-sonst-keine und keiner. Achtsamkeit, Selbstheilung, Grenzen nach außen, nach innen das Kind und so. Ganze Berufszweige leben vom grenzenlosen Bedarf an Selbstbezug. Therapeuten und Coaches, Schweigen im Kloster, Schwitzen schamanisch, gottlos in der Wellnessbude.

 

Offenbar sind wir Deutschen in den Kinderschuhen stecken geblieben. Oder wir schreien nachts immer noch durch und hoffen, dass wer kommt. Oder dass wenigsten die starken Lungen das Ketterauchen aushalten. Aber geschrien wird ja öffentlich nur montags. Anti-Tag. Oder samstags. Fußball. Ansonsten sind wir meist nur weinerlich. Und pflegen leidenschaftlich die „Kultur der Wehleidigkeit“1 wie der Regisseur Werner Herzog klagt. Aber der hat gut reden. Wächst im mannhaften Oberbayern auf, macht Filme über Helden und wohnt in Los Angeles. Ich wette, der hat ein Gewehr und geht auf Bärenjagd.

 

Aber nicht so jämmerlich. Es bleiben noch die geschätzten 20%. Das ist viel und reicht weit. 2020 ist das Spendenaufkommen unter den 30 Organisationen im DZI Spenden-Index (Deutsches Zentralinstitut für soziale Fragen) in Deutschland um 11,3 % gestiegen2. Das sind 1,5 Milliarden Euro. Viel Holz. Und nicht mal das gesamte deutsche Spendenvolumen. Wir geben freiwillig ungefähr so viel für Unbekannte aus wie die Stadt Köln im Jahr für ihre Bürger:innen. Und hier kennt man sich schließlich und hilft sich angeblich.

 

Die Alten über 70 haben das größte Herz. Klar, Haus abbezahlt, Kinder versorgt, Rente ok. Und mit der Spendenquittung von Misereor bricht der liebe Gott vielleicht nicht das Gespräch ab beim jüngsten Gericht.3 Frauen sind ein wenig freigebiger als Männer. Aber nicht viel. Liegt vielleicht daran, dass die selber manchmal Almosen kriegen. Vom Mann, vom Staat. Die Ostdeutschen sind knauserig. Auch klar, weniger Geld, weniger Religion, viel Enttäuschung.

 

Das Meiste verschenken wir für Menschen in Not. Das geht aber nicht immer gerecht zu. Zuerst sind eigentlich immer die Menschen mit Hunger dran, finde ich. Dann die, die zusätzlich kein Dach über dem Kopf haben. Dann die mit Hunger, ohne Dach und Cholera. Oder zuerst die mit Krieg und dann die mit Hunger? Es ist kompliziert.

 

Einfacher ist, was gerade über die Bildschirme läuft. Oder einfache Fragen. Wer hat blaue Augen oder dunkle Haut? Ist sie wohnungslos in Pakistan oder an der Ahr?

Die Not kann außerdem nerven auf Dauer. Jemen, Madagaskar, Sudan, Äthiopien. Die Boote im Mittelmeer und die Lager in Griechenland. Man kann’s nicht mehr hören. Gut, dass die Hilfsorganisationen nicht nach Meinungsumfragen verteilen oder nach Sendeminuten.

 

Und es bleiben immer noch Eckchen über im mitfühlenden Herz. Sogar für nichts Echtes. Sachen im Fernsehen und so. Für Heidi, die vom Berg nach Frankfurt muss. Für den kleinen Lord mit dem bösen Oppa. Für den räudigen Hund in Portugal. Obwohl der überhaupt nicht zu einer vom Aussterben bedrohten Art gehört.

 

Sogar für die tote alte Frau auf der Insel haben wir Tränen. Dabei müsste man mehr Mitleid haben mit den Sargträgern. Wenn die den Sarg fallen lassen, auf das schottische Pflaster, weil einer schlimm niesen muss. Stellt Euch vor! Deswegen ist Frau Windsor da auch gar nicht drin. Eine Attrappe höchstens oder eine der Winkefiguren aus dem Souvenirladen. Da bin ich sicher.

 

Wir könnten auch über die Putzfrau in London weinen, die den Kühlschrank abstellt wegen der Energiekosten. Oder über den Junkie in Kaiserslautern. Tun wir aber nicht. Überhaupt ist Tun nicht so schön wie Flennen. Wahrscheinlich werden wir uns bald nicht mehr einkriegen vor Selbstmitleid, wenn wir nach Skandinavien fliehen wegen der Hitze. Und wenn uns dann die Norweger blöd kommen.

 

Aber Mitleid ist unerschöpflich, bestimmt auch im kühlen Norden.

 

(1 Werner Herzog, DIE WELT, 08.09.2022)

(2 www.dzi.de/spendenberatung/spendenauskunfte-und-information/spendenstatistik/)

(3 frei nach Christoph Schlingensief)

 

Bild: Postkarte Cartoonkaufhaus

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Kommentare: 1
  • #1

    Bettina (Sonntag, 18 September 2022 07:32)

    Du hast mal wieder sooo was von Recht��