Viele 15 Jährige können nicht gut lesen, hab ich gehört. Also „erfassen, was die Hauptaussage eines mittellangen Textes“ ist.*1 Skandal, Untergang des Abendlandes. Früher war Goethe.
Ich finde das ehrlich gesagt nicht so schlimm. Wo sind Texte im Alltag überhaupt mittellang? Und wo gibt es eine Hauptaussage? OK, die Bahn, die deutsche, ist auf der Höhe der jugendlichen Leseschwäche. „Dieser Zug fällt leider aus.“ Kurzer Text, klare Botschaft, verhalten mitfühlend. Das kann man auch mit Musik im Ohr gut verstehen und gleichzeitig Paul schreiben, dass die Bahn wieder… und die Svenja hat, du weißt schon.
Mittellang war gestern. Und ganz lang war noch nie. Außer bei Frauen, die sich auf 800 Buchseiten beim Thema Liebe und anderen Katastrophen verlaufen. Aber der Trend ist eindeutig die Kurznachricht. Vielleicht nicht immer eindeutig, aber kurz auf jeden Fall. „Bin gleich da“ lese ich im Telefon und gehe nach 15 Minuten wieder heim. Dazu schreibe ich absichtlich nichts wegen böse. Kein Text ist manchmal die beste Botschaft.
Wenn lang, dann ist es meist viel zu viel. Drei Hauptaussagen gehen dann schnell unter im weitschweifigen Geschwurbel. Das Wahlprogramm der AFD von 2021 hat zum Beispiel 210 Seiten.*2 Was steht da um Himmelswillen drin? Was wird dort um den Markenkern herum gefaselt? Ausländer raus. Russisches Gas her. Klimawandel Lüge. Das sind 54 Zeichen (mit Leerzeichen).
Ich gebe zu, habe das Programm nicht gelesen. Keine Zeit. Will heute noch 300 Seiten mit Liebe u.ä.
Aber hören geht bestimmt auch. Vielleicht könnte ich mir beim schöngeistigen Lesen gleichzeitig einen rechtsradikalen Sprechtext reintun? Lieber nicht. Aber Hören ist trotzdem das neue Lesen, scheint mir.
Alle erzählen von Podcasts und hochinteressanten Beiträgen, die sie beim Putzen, Bügeln und Regalaufbau beflügeln. Ich musste erstmal googeln. Wikipedia sagt, das ist ein „Kofferwort“. Das schlage ich später nach. Pod steht für „play on demand“ und cast kommt vom englischen Broadcast, also Rundfunk. Manchmal bildet Lesen tatsächlich. Oder Hören. Und Gucken natürlich auch. Vielleicht sind die Jugendlichen mehr mit den Ohren unterwegs. Wer sagt, dass nur wild kombinierte Buchstaben durchs Auge hindurch den Weg ins Hirn finden?
Auf Youtube und Instagram gibt es Abermillionen lustiger Geschichten über Mutproben, Essenkochen und Späße mit Katzen und Hunden. Auch jede Menge lehrreicher Sachen zum Putzen, Bügeln und Regalaufbauen. Bestimmt hat auch die Liebe u.ä. ihren Platz irgendwo.
Womöglich hat das Lesen einfach ausgedient. Genau wie das Alphabet. Google braucht das nicht. Und die Jugendlichen sind naturgemäß viel näher an der Zukunft dran als wir Boomer von früher. Mit 5 Regalmetern Bücher von mittelmäßigem Nutzen im Wohnzimmer.
Andererseits verstehen nur 3,8 % der Gymnasiast*innen den besagten mittelschweren Text nicht.*3 In Hauptschulen kapieren 35 % nicht, worum es geht. Sind diese Schüler*innen also dümmer? Aber alle Babys jeder Hautfarbe und aus allen Ländern kommen doch gleich schlau auf die Welt. Oder etwa nicht? Oder verstärkt unser Bildungssystem mit voller Absicht die soziale Sortierung?
Das wollen wir nicht… glauben.
*1 https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/die-zehn-wichtigsten-ergebnisse-der-pisa-studie/
*3 Der "mittelschwere Text" ist noch nicht freigegeben. "Bei PISA werden nach jedem Haupttest Aufgaben für die Öffentlichkeit freigegeben. Der Großteil der Aufgaben bleibt allerdings weiterhin unter Verschluss, da diese in kommenden PISA-Erhebungen wieder eingesetzt werden."
https://www.iqs.gv.at/pisa-freigegebene-aufgaben
Collage Susanne
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Ute (Sonntag, 21 April 2024 16:54)
Kurznachricht: super Text! Bin im Zug, höre keinen Podcast...lese Susanne!!